Donnerstag, 4. Februar 2010

Hundert Tage, oder Schlimmer geht Immer

Die 100 Tage Bilanz der neuen schwarz-gelben Koalitionsregierung sieht verheerend aus, wer sich von der Großen Koalition wenig beeindruckt zeigte sieht nun, schlimmer geht immer. War das voraussehbar? Natürlich, genauso wie die Griechenpleite. Aber das nur am Rande.

Besonders tragisch ist eher, dass man sich fragen muss, wieso eigentlich die Parteien in der Beurteilung der volkswirtschaftlichen Lage und der Wahl ihrer Mittel immer so treffsicher daneben liegen. Bei der Beurteilung der Probleme des kleinen Mannes mag das noch einleuchtend sein, denn der typische MdB ist meilenweit von der aktuell prekären Situation des Durchschnittbürgers entfernt. Private Krankenversicherung, keine Rentenlasten und überdurchschnittliches Beamten- oder Abgeordnetensalär führen automatisch zu einer unvermeidbaren Abgehobenenvorstellung. Besonders hervorragend in dieser Stellung etwa MP Roland Koch, der seinen dreisten Spezies viel gönnt und die HartzIV-Unterschicht mit Arbeit frei machen möchte.

Sei es nun der blutjunge privat Versicherte als Gesundheitsminister, dem die Idee der Kopfprämien und die zukünftig durch die Einfrierung der Arbeitgeberanteile einseitig auf die Arbeiter und Angestellten verlagerte Gesundheitskosten sicherlich keine großen Kopfzerbrechen machen. Schlimmer geht immer, so dann noch die neue Familienministerin, Baujahr 1977, Kind eines Beamten und einer selbstständigen Immobilienmaklerin. Schon von Berufsanfang an im Abgeordnetenkarussel, Jung, Kinderlos und mit einem ebenfalls beamteten Staatssekretär verlobt. Mehr die typischen Eigenschaften einer Yuppi-Verbindung und nicht wirklich die der zunehmend prekären Mittel- oder Unterschichtfamilie, um die sich ihr Ministerium drehen sollte. Selbst wenn sie sich ehrlich bemüht, sie kann die Probleme dort unten nicht wirklich verstehen.

Aber selbst da, wo man von solchen Leuten einiges an Kompetenz erwarten würde, nämlich im Regime des großen Geldes, glänzt man mit bedenklicher Unwissenheit. Die mächtigste, vorgeblich volkswirtschaftliche, Hypothese der man frönt ist dabei die so genannte „Pferdeäpfeltheorie“: Demnach muss man den edlen Hengst vorne oben nur mit reichlich lecker Hafer füttern, damit hinten unten noch genug Pferdeäpfel für die kleinen Leute raus fallen.

Nur, hier liegt ein fundamentales Missverständnis vor, und mit dem stehen Politiker gar nicht so alleine da. Denn die Pferdeäpfeltheorie ist, wie viele andere solcher scheinbar auf der Hand liegenden Logiken, letztlich ein Element der Betriebswirtschaftslehre (Mikroökonomie, BWL) und nicht der eigentlichen Volkswirtschaftslehre (Makroökonomie, VWL). Der Unterschied besteht mathematisch darin, dass erstere (quasi-)offene, zweitere (quasi-)geschlossene Systeme betrachtet. Und das ist in der Tat ein fundamentaler Unterschied.

Ein praktischer Unterschied ist am Beispiel der Funktion von Geld zu sehen: Wenn ein Betrieb einen Zufluss von Geld verbucht, so ist das für den Betrieb natürlich erstmal ein Gewinn. Für die Volkswirtschaft aber keineswegs, denn da ist es erstmal nur eine Verschiebung eines Geldbetrages von einem zum anderen. Schlimmer noch bei der so genannten Geldschöpfung. Für einen Betrieb, wie etwa den Betrieben die für die Geldschöpfung zuständig sind, die privaten Banken, stellt so was erstmal einen Gewinn dar. Für die Volkswirtschaft dagegen einen Verlust, falls die Geldschöpfung nicht mit mindestens gleich großen Wertschöpfung aus dem BIP unterlegt ist. Und letzteres ist eben in besonders verheerendem Maße beim Investmentbanking der Fall, wo lediglich Derivate gegenseitig hochgejubelt werden.

Ein wenig verstehen kann man das Problem schon, denn am Anfang einer sich entwickelnden Gesellschaft der Wirtschaftswunderzeiten, wo exponentielle Zuwächse noch keine Magenschmerzen bereiten, ist der Unterschied zwischen BWL- und VWL-Ideen gar nicht so groß. Je mehr das System sich aber seinen Grenzen nähert, desto fundamentaler sind die Unterschiede und geradezu gegenläufigen Diskrepanzen gworden. Um bei der Pferdeäpfeltheorie zu bleiben: Inzwischen müssen die gigantisch gewachsenen Pferde ihre Äpfel zu dem leckeren Hafer noch selbst fressen um halbwegs satt zu werden, dahinten spürt man nur noch gewaltige Fürze. So sind die netto verfügbaren Einkommen des Durchschnittamerikaners seit den 1980er Jahren inflationsbereinigt gesunken, die des Deutschen seit den 1990er-Jahren auch.

Und da sind wir beim Informationsproblem der Politik, aber auch der Öffentlichkeit und einem ihrer wichtigsten Vertreter, dem Journalismus, angekommen. Denn Berater und Lobbyisten kommen mit weitem Vorsprung aus der betriebswirtschaftlichen Ecke. Kein Wunder daher, dass die aktuellen Probleme mit dem bekämpft werden, was sie ausgelöst hat: Neue Schulden, die immer auch wachsende Vermögen eines Anderen bedeuten. Das was für den Betrieb der Deutschen Bank gut ist, nämlich billiges Geld und unbehindertes Investmentbanking, ist für die Volkswirtschaft heute mittelfristig tödlich.

Das die in der Verantwortung stehenden Regierungen dies nicht begreifen wollen ist Angesichts der verheerenden Probleme der praktischen Umsetzung verständlich. Schlimmer dagegen ist das ebenso vollständige Versagen der Opposition. In den USA verständlicher, weil es dort gar keine echte Opposition gibt, denn die Unterschiede im faktischen Zweiparteiensystem zwischen Republikanern und Demokraten sind nicht mal so groß als zwischen Union und FDP.

Hier in Europa müssten aber erstmal die Oppositionen auf den Trichter kommen. Und die unangenehmen volkswirtschaftlichen Wahrheiten und ihre unumgänglich schmerzhaften Lösungen verbalisieren und einfordern. Und diese Lösung besteht eben nicht in der immer weiteren Umschichtung der Lasten der Schulden- und Vermögensblase auf die arbeitende Bevölkerung. Wie bei jeder, betriebswirtschaftlichen, Insolvenz hilft es nur die Schulden in Luft aufzulösen und die Gläubiger zu prellen. So ist es nun mal, für Dummheit, also die Investition in ein zum Scheitern verurteiltes Geschäftsmodell, muss der Investor irgendwann mal bluten. Es nutzt nicht dauerhaft, die Kapitalkosten auf die Kunden umzulegen.

Wer das nicht begreift und die Zwangskunden des Staates, die Bürger, für sowieso nicht mehr tilgbare Schulden bis auf die Knochen ausplündert, der verkauft die Demokratie an das Kapital. Politik muss agieren lernen, statt immer nur auf neue Katastrophen zu reagieren, und dann auch noch falsch.


“Der Grund für dieses verzweifelte Sichblindstellen liegt in einem Wirtschafts- und Finanzsystem, das inzwischen alle Merkmale einer veritablen Karzinombildung angenommen hat: Es muß ständig wachsen , um zu existieren. ....es hat keinen Zweck, an den erschreckenden Folgesymtomen herumzuflicken: Das ganze Wirtschaftssystem muß eben geändert werden. Aber das kann man nicht, oder man will es auch gar nicht. Ich bin überzeugt, daß die großen Wirtschaftsleute und die verantwortlichen Politiker aller Lager dieses Problem längst sehen - aber sie schweigen. Sie wagen nicht darüber öffentlich zu sprechen. ....Also werden es, wie ich fürchte, die Ereignisse sein, die uns belehren.”

(Michael Ende, Autor)

Schlimmer geht Immer. Die nächsten „Überraschungen“ für unsere Experten und Politiker sind leider leicht vorhersagbar. Man kann nur hoffen dass Bürger und Opposition bald, sehr bald, aufwachen.

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