Samstag, 23. Februar 2013

Land ohne Volk: Die Europäische Idee.

BP Joachim Gauck hat seine erste große Rede gehalten, im Kreise geladener Gäste im Schloss Bellevue. Die Meinungen zu Inhalt und Qualität gehen wie üblich auseinander, ich persönlich habe die Rede ebenfalls nachgelesen und finde sie, den Umständen entsprechend, gar nicht schlecht. Natürlich, wer eine Revolution erwartet hätte, dürfte enttäuscht sein, aber es war eine Rede mit durchaus kritisch klaren Worte an die Adresse selbstverliebter Supereuropäer aus den oberen Etagen der Gesellschaft. Passend dazu der Titel „Rede zu Perspektiven der europäischen Idee“, die man auf seiner Homepage ruhig einmal nachlesen sollte. Die Frankfurter Rundschau schrieb zu seiner Rede: „...In einer europapolitischen Grundsatzrede beklagte Gauck am Freitag in Berlin eine Krise des Vertrauens. Der gegenwärtige Zustand des Kontinents sei nicht nur als Problem des Euro zu beschreiben - es gebe in der Bevölkerung einen deutlichen Unmut, der nicht ignoriert werden dürfe. Viele Bürger würden in einem Gefühl der Macht- und Einflusslosigkeit zurückgelassen. „Es gibt Klärungsbedarf in Europa, angesichts der Zeichen von Ungeduld, Erschöpfung und Frustration unter den Bürgern“, sagte Gauck ...Den Satz „Wir wollen mehr Europa wagen“, den er zu Beginn seiner Amtszeit gesagt hatte, würde er heute so schnell nicht mehr formulieren...“.

BP J. Gauck. Bildq.: Wikipedia, dts-nachrichtenagentur
 Mit seiner gut begründeten Nachdenklichkeit unterscheidet sich Gauck angenehm von BK Merkel: „......Während Merkel dazu neigt, ihre Wege der europäischen Krisenbewältigung, also vor allem das Sparen, als alternativlos zu betrachten, hält Gauck zu diesem Thema fest: „Wir wissen, dass es verschiedene ökonomische Konzepte gibt und nicht nur ein Weg zum Ziel führt.“ ...Er nimmt in seiner Rede Bezug auf das „Manifest zur Neugründung Europas von unten“, das der linke Soziologe Ulrich Beck und der grüne Politiker Daniel Cohn-Bendit initiiert haben. Auch das zeigt, er lässt sich in dem Amt das Recht auf freies Denken und Reden nicht nehmen....Im Präsidialamt finden sie auch, dass Gauck seine Sache gut macht. Einige meinen aber, es könnte noch besser gehen.... Die finden, dass ein Joachim Gauck, der doch bei seiner ersten Kandidatur von einer wahren Begeisterungswelle getragen wurde...dass dieser Joachim Gauck noch andere Akzente setzen müsste. Ein Zeichen in diese Richtung hat er gegeben, als er jüngst der Obdachlosenzeitung Straßenfeger ein Interview gab, als erster Bundespräsident überhaupt. Eine Sympathieerklärung an die Verlierer, die Ausgegrenzten, die von manchen Bedenkenträgern im Präsidialamt mit Kopfschütteln und Stirnrunzeln verfolgt wurde. Hätte er doch lieber der FAZ ein Interview gegeben! Auch die Einladungsliste für die Europarede war wie ein Signal zu verstehen: Keine Minister, kaum Politiker, aber Schüler, Studenten, Europa-Aktivisten....“.

Aber seine Rede enthält, nach Abzug der in „Europa-Reden“ üblichen gebetsmühlenartig gehäuften Devotionalien an Alles und Jeden der „großen Europäischen-Idee“, doch noch einiges mehr an Bemerkungen, die den Kern des Problems treffen. Natürlich werden diplomatisch weichgespült die Dinge mehr touchiert als gestochen, aber immerhin. Die Kernfrage ist doch, wo neben der „Europäischen Idee“, die sich ursprünglich auf eine Wirtschafts- und Friedensgemeinschaft bezog, nun das zu dem daraus entwickelten „EuropäischenTraum“ passende Volk eigentlich zu finden sein soll? Das so gar nicht einheitlich existiernde „Europäisches Volk“, eingeklemmt zwischen einer Machtelite, vertreten durch die Kommision, aus Bürokraten, Subventionsjägern und Investoren, die den „Europäischen Traum“ vor allen Dingen als eine persönliche Vermögensverwaltung für sich und ihre Klientel und Lobbyisten denken und verwalten, und einer grün-rosa Brillenträgerfraktion vor allen Dingen im Europa-Parlament, die in diesem Traum ihre postkommunistischen Vorstellungen einer sozial-ökonomisch-ökologischen Gleichmacherei vom Ural bis zur Straße von Gibraltar sehen und verwirklichen möchten.

Schauen wir also, was BP Gauck hierzu der Politik, aber auch seinen Bürgern,ins Gebetbuch schrieb:

Zunächst konfrontiert er die Zuhörer mit dem aktuellen Status Quo: „….So viel Europa war nie: Das empfinden viele Menschen besonders in Deutschland derzeit auf ganz andere Weise, zum Beispiel beim Blick in die morgendlichen Zeitungen. Da begegnet uns Europa meistens verkürzt auf vier Buchstaben – Euro - oder als Krisenfall. Immer wieder ist von Gipfeldiplomatie die Rede und von Rettungspaketen. Es belastet. ... In einigen Mitgliedstaaten fürchten die Menschen, dass sie zu Zahlmeistern der Krise werden. In anderen wächst die Angst vor immer schärferen Sparmaßnahmen und sozialem Abstieg. Geben und Nehmen, Verschulden und Haften, Verantwortung und Teilhabe scheinen vielen Bürgerinnen und Bürgern nicht mehr richtig und gerecht sortiert in der Gemeinschaft der Europäer. Hinzu kommt eine Liste von Kritikpunkten, die schon seit langer Zeit zu hören sind: der Verdruss über die sogenannten Brüsseler Technokraten und ihre Regelungswut, die Klage über mangelnde Transparenz der Entscheidungen, das Misstrauen gegenüber einem unübersichtlichen Netz von Institutionen und nicht zuletzt der Unwille über die wachsende Bedeutung des Europäischen Rates und die dominierende Rolle des deutsch-französischen Tandems. So anziehend Europa auch ist – zu viele Bürger lässt die Europäische Union in einem Gefühl der Macht- und Einflusslosigkeit zurück. Ich weiß es, ich höre es, ich lese es fast täglich: Es gibt Klärungsbedarf in Europa. Angesichts der Zeichen von Ungeduld, Erschöpfung und Frustration unter den Bürgern, angesichts der Umfragen, die mir eine Bevölkerung zeigen, die unsicher ist, ob unser Weg zu „mehr“ Europa richtig ist, scheint es mir, als stünden wir vor einer neuen Schwelle – unsicher, ob wir wirklich entschlossen weitergehen sollten. Die Krise hat mehr als nur eine ökonomische Dimension. Sie ist auch eine Krise des Vertrauens in das politische Projekt Europa. Wir ringen nicht nur um unsere Währung. Wir ringen auch mit uns selbst....“.

Und beginnt dann mit seiner persönlichen Kritik, zu Recht eingeleitet mit einem historischen Resümee: „...Für mich ist dieser Tag auch Anlass, neu und kritischer auf meinen euphorischen Satz kurz nach meiner Amtseinführung zurückzukommen, als ich sagte: „Wir wollen mehr Europa wagen.“ So schnell und gewiss wie damals würde ich es heute wohl nicht mehr formulieren. Dieses Mehr an Europa braucht zumindest eine Deutung, braucht Differenzierung. Wo kann und wo soll mehr Europa zu einem gelingenden Miteinander beitragen? Wie soll Europa aussehen? Was wollen wir entwickeln und stärken und was wollen wir begrenzen? Und nicht zuletzt: Wie finden wir für mehr Europa mehr Vertrauen, mehr Vertrauen als wir es derzeit haben?...Erinnern wir uns: Der Anfang war doch vielversprechend. Bereits fünf Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs schlug Frankreichs Außenminister Robert Schuman seinen europäischen Partnern die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl vor. Frankreich und Deutschland wurden zu den großen Impulsgebern der europäischen Entwicklung – und aus ehemaligen Kriegsgegnern wurden Partner...Damals, 1950, war Jean Monnet der Ideengeber. Sein Ziel: die Sicherung des europäischen Friedens durch eine „Vergemeinschaftung“, die den Mitgliedern gleichzeitig rationalen Nutzen versprach. ...Wenn die Wirtschaft verschmilzt, verschmilzt irgendwann auch die Politik. ...Wo einst Staaten um Ressourcen und um die Hegemonie stritten, wächst Frieden durch gegenseitige Verflechtung..... Nur Schritt für Schritt sollte aus wirtschaftlicher Integration politische werden, aus immer größeren Feldern von Vergemeinschaftung schließlich ein gemeinsames Europa entstehen ...Heute sind wir nun allerdings gezwungen, diese Art des Vorgehens grundlegend zu überdenken. Weil Entwicklungen ohne ausreichenden politischen Gesamtrahmen zugelassen wurden, sind die Gestalter der Politik bisweilen zu Getriebenen der Ereignisse geworden.... Nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Lagers etwa wurden zehn Staaten in die EU aufgenommen, obwohl das nötige Fundament für eine so große EU noch fehlte. Und so blieben bei dieser größten Erweiterung der EU die Fragen nach einer Vertiefung teilweise jedenfalls unbeantwortet. Als folgenschwer erwies sich auch die Einführung der gemeinsamen Währung. 17 Staaten führten im Laufe der Jahre den Euro ein, doch der Euro selbst bekam keine durchgreifende finanzpolitische Steuerung. Dieser Konstruktionsfehler hat die Europäische Union in eine Schieflage gebracht, die erst durch Rettungsmaßnahmen wie den Europäischen Stabilitätsmechanismus und den Fiskalpakt notdürftig korrigiert wurde....“.

Natürlich darf der „große Europäer“ Gauck nicht fehlen: „...Für mich ist jedoch klar: Selbst wenn einzelne Rettungsmaßnahmen scheitern sollten, steht das europäische Gesamtprojekt nicht in Frage.“. Na klar, dass musste sein, so oder so ähnlich kommt es in jeder Rede deutscher Politiker vor, obwohl schon eine Platitüde und Selbstverständlichkeit, ja Staatsräson, es muss in jeder „guten“ Rede nochmal betont werden, um ja nicht in die Bedrouille der vermeintlichen Europafeindlichkeit gerückt zu werden. Nicht anders als bei jeder „guten Rede“ über die USA oder Israel, ohne das weichspülende „ja aber“ usw. geht es einfach nicht, Kritik ja, aber bitte nicht wehtun, was hier jedoch auch dem speziellen Amte angemessen geschuldet erscheint.

Nun kommt er zum Kernthema: „….Was uns als Europäer allerdings auszeichnet, was unsere europäische Identität bedeutet, das wiederum bleibt schwer zu umreißen. Junge Gäste hier in Schloss Bellevue haben mir vor Kurzem bestätigt, was wohl viele hier im Saal auch kennen: „Wenn wir draußen in der großen, weiten Welt sind, dann empfinden wir uns als Europäer. Wenn wir in Europa sind, dann empfinden wir uns als Deutsche. Und wenn wir in Deutschland sind, na dann eben als Sachse oder Hamburgerin.“ Wir sehen dabei, wie vielschichtig Identität sein kann. ...Doch wie sieht es heute aus? Was bildet denn heute das einigende Band zwischen den Bürgern Europas? Woraus schöpft Europa seine unverwechselbare Bedeutung, seine politische Legitimation und seine Akzeptanz? ...Ich weiß, liebe Schülerinnen und Schüler im Saal, Ihr habt Eurer erstes Taschengeld in Euro erhalten, Ihr lernt mindestens zwei Fremdsprachen, .. Oft lernt Ihr schon miteinander in Europa, statt nur etwas übereinander zu lernen. ...Trotzdem stimmt natürlich, was oft moniert wird: In Europa fehlt die große identitätsstiftende Erzählung. Wir haben keine gemeinsame europäische Erzählung, die über 500 Millionen Menschen in der Europäischen Union auf eine gemeinsame Geschichte vereint, die ihre Herzen erreicht und ihre Hände zum Gestalten animiert. Ja, es stimmt: Wir Europäer haben keinen Gründungsmythos nach der Art etwa einer Entscheidungsschlacht, in der Europa einem Feind gegenübertreten, siegen oder verlieren, aber jedenfalls seine Identität wahren konnte. Wir haben auch keinen Gründungsmythos im Sinne einer erfolgreichen Revolution, in der die Bürger des Kontinents gemeinsam einen Akt der politischen oder sozialen Emanzipation vollbracht hätten. Die eine europäische Identität gibt es genauso wenig wie den europäischen Demos, ein europäisches Staatsvolk oder eine europäische Nation...“.

Arminius: Kämpfer gegen kulturelle Unterdrückung und Steuerwillkür
Genau da liegt der Hase im Pfeffer: Eine „Nation“ bildet wie jede Gruppe, seine Identität vor allem auf Grundlage gemeinsam durchgestandener Kämpfe und überwundenen Gefahren, erst in zweiter Linie dann auf eine gemeinsame Sprache, und zum dritten um eine gemeinsame Historie die sich auf den ersten beiden Bedingungen über Jahrhunderte aufbaut. Über nichts dergleichen verfügt das „Europäische Volk“ wirklich. Denn es waren seit Jahrhunderten keine gemeinsamen Kämpfe, sondern Kämpfe gegen einander, mit Verlierern und Gewinnern, von einer gemeinseman Sprache kan bei den mindestens 100 Sprachen und Hauptdialekten beim besten Willen nicht die Rede sein, und die gemeinsame Historie ist bestenfalls auf die Antike begründbar, wo griechische und römische Wurzeln, der aber damals schon entscheidende Gegensatz dieser zu den Nordöstlich gelegenen Germanen, Goten und Slawen, die dann endlich Rom kassierten und „Europa“ formten. So vom Osten her die Goten und Slawen, vom Nord-Westen her dagegen die Franken, Alemannen und Sachsen, alle untereinander von Anfang an mehr oder weniger verfeindete Konkurrenten. Besonders das Erbe der verfeindeten Westfranken (später Frankreich) und der Ostfranken (später Deutschland) spaltete Zentral-Europa von der Völkerwanderungszeit bis in die jüngste Geschichte, eben und da sind wir beim europäischen Traum angelangt, bis zur Gründung der EWG.

Mehr als zweitausend Jahre Geschichte, die in nur 50 Jahren vergessen gemacht werden soll. Durch einen schönen idealistischen Traum: „...Aber dennoch hat Europa eine identitätsstiftende Quelle – einen im Wesen zeitlosen Wertekanon, der uns auf doppelte Weise verbindet, als Bekenntnis und als Programm. Wir versammeln uns im Namen Europas nicht um Monumente, die den Ruhm der einen aus der Niederlage der anderen ableiten. Wir versammeln uns für etwas – für Frieden und Freiheit, für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, für Gleichheit, für Menschenrechte, für Solidarität. Alle diese europäischen Werte sind ein Versprechen, aber sie sind auch niedergelegt in Verträgen und garantiert in Gesetzen. Sie sind Bezugspunkte unseres gemeinsamen republikanischen Verständnisses – Grundlage dafür, dass alle Bürgerinnen und Bürger gleichberechtigt am gesellschaftlichen und politischen Leben teilhaben können. Die europäischen Werte öffnen den Raum für unsere europäische res publica.….“.

Nun schön wäre dass, aber es ist realitätsfremd. Insbesondere der Trauminhalt „...Grundlage dafür, dass alle Bürgerinnen und Bürger gleichberechtigt am gesellschaftlichen und politischen Leben teilhaben können...“ ist besonders angesichts der aktuellen Verteilungskrise die von der Europäischen Politik unter Deutscher Beteiligung gerade zu dreist verschärft wird, längst zur Farce geworden. Das Gerede von der Teilhabe ist bei Arbeitslosenquoten, insbesondere der Jugend im Süden von um die 50% und mehr, eine absurde Groteske.

Zum Ende wendet sich Gauck an die anwesenden „Exzellenzen“: „...Sehr geehrte Damen und Herren,unseren Wertekanon, den stellt glücklicherweise kaum jemand in Europa in Frage. Der institutionelle Rahmen dagegen, den sich Europa bis jetzt gab, der wird gerade intensiv diskutiert....Notwendige Anpassungen im wirtschafts- und finanzpolitischen Bereich im Euroraum hat die Politik jetzt glücklicherweise unter Druck vorgenommen. ...Ich habe eingangs in meiner Rede von einer Schwelle gesprochen: Wir halten inne, um uns gedanklich und emotional zu rüsten für den nächsten Schritt, der Neues von uns verlangt....Wir brauchen eine weitere innere Vereinheitlichung. Denn ohne gemeinsame Finanz- und Wirtschaftspolitik kann eine gemeinsame Währung nur schwer überleben. Wir brauchen auch eine weitere Vereinheitlichung unserer Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik, um gegen neue Bedrohungen gewappnet zu sein und einheitlich und effektiver auftreten zu können....“. Worte die man unter Europaenthusiasten nur zu gerne hört: Noch mehr Ämter, mehr Subventionen und fette Stellenkegel. Wer da nicht frohlockt und die Eingangssätze schnell wieder vergisst, der hat in Brüssel wenig verloren.

Aber es gibt ja noch die Anderen, über die man gerne, mit denen man aber praktisch nie redet: „... Wir haben inzwischen starke Zivilgesellschaften. Ohne die Zustimmung der Bürger könnte keine europäische Nation, kann kein Europa wachsen. Takt und Tiefe der europäischen Integration, sie werden letztlich von den europäischen Bürgerinnen und Bürgern bestimmt....“. Ich hoffe nur er meint damit nicht den europäischen Stimmzettel der alle paar Jahre ausgefüllt wird um dann mit einem unerklärlichen EU-Proporz-Schlüssel die Posten im EU-Parlament aus zu losen.

Und weiteres Seelenfutter, aber auch die darin eingewickelte Ermahnung, folgt für die „Exzellenzen“ Europas: „...Sehr geehrte Damen und Herren, mehr Europa fordert: mehr Mut bei allen! Europa braucht jetzt keine Bedenkenträger, sondern Bannerträger, keine Zauderer, sondern Zupacker, keine Getriebenen, sondern Gestalter. Sie, Exzellenzen, die hier heute anwesend sind, Sie wissen, dass selbst mit einer besten pro-europäischen Haltung dennoch manche Bemühungen um Gestaltung ins Leere laufen können.... Eines der Hauptprobleme bei der Herausbildung einer engeren europäischen Gemeinschaft scheint mir die unzureichende Kommunikation innerhalb Europas zu sein. Und damit meine ich eigentlich weniger die Ebene der Diplomatie, als vielmehr den Alltag der Bevölkerung, richtiger der Bevölkerungen. ...Das Wissen über die Nachbarn ist immer noch gering – von einer vergleichsweise kleinen Gruppe von Studierenden, Geschäftsleuten, Intellektuellen und Künstlern einmal abgesehen. Europa hat bislang keine gemeinsame europäische Öffentlichkeit, die sich mit dem vergleichen ließe, was wir national als Öffentlichkeit beschreiben. ...“.

Zum Schluss wird Gauck dann noch einmal richtig gut, da spricht der alte Fuchs der Revolutzer aus dem Predigtstuhl, da ist Gauck unübertrefflich, wenn es darum geht zur Revolution aufzurufen, ohne dass die „Exzellenzen“ gleich nach Staatssicherheit oder Verfassungsschutz rufen : „...Mehr Europa heißt für mich: mehr europäische Bürgergesellschaft. Ich freue mich daher, dass 2013 das Europäische Jahr der Bürgerinnen und Bürger ist. Ich würde nicht in allen Einzelheiten so weit gehen wie die Autoren des „Manifests für eine Neugründung Europas“, aber ich hege große Sympathien für die Überschrift, die sie über ihr Manifest gestellt haben und, unter der sich die Unterstützer sammeln. Sie lautet: „Frage nicht, was Europa für Dich tun kann, frage vielmehr, was Du für Europa tun kannst!“....Der Europäer Gauck hat – wenn er sich nun fragt, was er sich wünscht in dieser Situation – ein paar Antworten auf eine Liste geschrieben. Erstens: Sei nicht gleichgültig! Brüssel mag weit weg sein, aber die Themen, die dort verhandelt werden und beschlossen werden, sie gehen jeden an. Es darf uns nicht egal sein, wie die EU auf Standards Einfluss nimmt, die dann bei uns im Kinderzimmer oder auf dem Esstisch wirksam werden. Es darf uns nicht egal sein, welche Maßstäbe wir anlegen an die Außen-, Sicherheits-, Umwelt- und Entwicklungspolitik, die eben auch in unserem Namen stattfindet. ...Zweitens: Sei nicht bequem! ...Sie hat es verdient, dass ihre Bürgerinnen und Bürger Interesse zeigen und sich informieren. Sie hat es doch verdient, dass mehr als 43 Prozent der Wahlberechtigten an der Europawahl teilnehmen. ...Drittens: Erkenne Deine Gestaltungskraft! Ein besseres Europa entsteht nicht, wenn wir die Verantwortung dafür immer nur bei anderen sehen. Es gibt ja auch für uns so viele Möglichkeiten. Wer etwas anstoßen oder etwas verhindern will, der nutzt eine Europäische Bürgerinitiative.…..“.

Ja auch da hat er eben recht, der Bürger der bislang lieber „Dschungelcamp“ guckt anstatt für seine Interessen auf die Barrikaden zu gehen, der soll mal langsam aus den Puschen kommen. Das Land ohne Volk, dass seinen Ausverkauf den Lobbyisten der Finanzinstitute und Investmentgesellschaften, und den von diesen unter Druck, Abhängigkeit und Gehirnwäsche gesetzten Politiker überlässt, dieses Land sollte endlich mal ein Volk bilden. Ein für alle sichtbares „Wie sind das Volk“, anstatt einer nebulösen Idee der Eliten. „Sei nicht bequem“, und gehe endlich auf die Straße. Komme endlich in die Existenz als „Wir sind das Volk“, und nicht die lieben internationalen Investoren, wir gehen nach Brüssel und kämpfen gegen die Austeritätspolitik die nur einem nützt, dem anonymen Investor eben.

Wie sagte er kurz vorher denn noch passend: „... Gründungsmythos, Entscheidungsschlacht, in der Europa einem Feind gegenübertreten, siegen oder verlieren, aber jedenfalls seine Identität wahren konnte, im Sinne einer erfolgreichen Revolution, in der die Bürger des Kontinents gemeinsam einen Akt der politischen oder sozialen Emanzipation vollbracht hätten....“. Genau dieser Akt ist fällig, ja überfällig. Es reicht nicht wenn in Griechenland oder Spanien vereinzelte Grüppchen protestieren. Erst wenn das eine Europäische Dimension bekommt, wenn sich das „Volk“ zu einem „Wir sind das Volk“ zusammenfindet und die „Entscheidungsschlacht“ vor den Toren des ESM und Co. führt, wo es siegen oder verlieren, aber jedenfalls seine Identität wahren kann. Nur „könnte“, muss man bisher allerdings sagen, wenn es denn endlich aus dem Schlaf erwachte.

Zum allerletzten bringt er dann noch etwas die in Balsam eingelullte Ermahnung der "Supereuropäer" in eigener Sache: „...Wichtig ist mir auch der Dank an unsere deutschen Politikerinnen und Politiker, die ihre nationalen Aufgaben mit unseren europäischen Verpflichtungen verbunden haben. Besonders danke ich dabei an die, und besonders danke ich ihnen, die beim Begriff Solidarität nicht allein die Sorge um den Besitz der Besitzenden angetrieben hat....Wir werden wohl innehalten vor einer Schwelle, werden neu nachdenken. Werden aber dann mit guten Ideen und guten Gründen Vertrauen erneuern, Verbindlichkeit stärken, und werden weiter bauen, was wir gebaut haben – Europa.“ Manche Publizisten beklagen, dass es der Rede Gaucks an großen Sätzen gefehlt habe, so etwa wie in Wulffs Rede das Wort vom „der Islam gehört zu Deutschland“.

Sternmarsch nach Brüssel

Nun, mir bleibt der Schlusssatz jedenfalls durchaus in Erinnerung: „Besonders danke ich dabei an die, und besonders danke ich ihnen, die beim Begriff Solidarität nicht allein die Sorge um den Besitz der Besitzenden angetrieben hat“. In der Tat, ein Satz der auf viel zu wenige Politiker im mehr als Halbmilliarden-Volk der Europäer zutrifft. Wir "Europäer“ sollten Gauck's Wink mit dem Zaunpfahl langsam mal ernst nehmen. Und dem bislang völlig abstrakten Europäischen Volk ein Gesicht geben. Ein Gesicht das man dringend in Brüssel zeigen muss. Nur wenn das Volk sich formiert und damit seine eigene Identität ein Stück voranbringt, wenn es nämlich in der Gemeinschaft erstmals seine unmittelbaren Interessen zeigt und durchsetzt. Eine Identitätsstiftende Handlung unternimmt, etwa einen gigantischen Sternmarsch der Benachteiligten, der Austeritätsopfer und Arbeitslosen, der Enteigneten Häuslebauer, den um ihre Lebensperspektive gebrachten Jugendlichen aller EU-Länder. Nach Brüssel, wo sich dann nicht nur kleiner bemitleidenswerte Protestgrüppchen von vielleicht ein paar hundert Leuten unter lauter Touristen verlieren, sondern wo wenigstens eine Million EU-Bürger mit einer Stimme in hundert Sprachen formuliert: „Wir sind das Volk!“

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